Ein unkuratiertes halbes Jahr

Prolog: Der Abschied

Sich kreuzende Kondensstreifen zweier Flugzeuge am roten Morgenhimmel.

Die Geschichte beginnt nicht wirklich auf dem Weg zum Flughafen. Sie beginnt im September 2022 im sterilen Glanz einer Büroumstrukturierung. Ich wurde degradiert. Natürlich nicht offiziell. Es war eine „Umstrukturierung” und meine Erfahrung wurde in einem neuen Team „benötigt”. Eine unternehmerische Art zu sagen, dass man keine Zukunft mehr hat. Ich fühlte mich wie ein Rädchen in einer Maschine, die ich nicht mehr wiedererkannte. Dann kam der zweite Schlag. Mein Vermieter beschloss, die Wohnung zu verkaufen. Ohne Zuhause und ohne Aufstiegschancen packte ich mein Leben in einen Koffer und zog in das Gästezimmer meiner Großeltern – ein Mittdreißiger, der sich in den Komfort eines Familienanwesens zurückzog.

Ich floh. Ich unternahm eine Reise quer durch Europa, dann eine weitere durch Südamerika, um dem Gefühl der Orientierungslosigkeit zu entkommen. Ich nahm sogar einen neuen Job an, doch meine Akkus waren nur noch zu 20 % geladen. Ein Burnout? Ich hörte auf. Ich nahm mir gut zwei Jahre Zeit, um mich zu erholen und meine Energie langsam wieder aufzubauen.

Sprung ins Jahr 2025: Die Reise in den Osten war weder eine große Flucht noch ein geplantes Abenteuer. Es war ein Test. Würde ich mich noch zu Hause fühlen, wo ich meinen Koffer abstellte? Oder hatten die Veränderungen meinen inneren Kompass grundlegend zerstört? Die Fahrt zum Flughafen war nicht nur ein bescheidener Anfang, sondern der erste vorsichtige Schritt aus den Trümmern heraus, der erste Satz einer Geschichte, von der ich nicht sicher war, ob ich sie noch erzählen könnte.

I. Akt: Die Sinne und die Stille

Vom Palawan Viewing Tower mit Blick auf das malerische türkisfarbene Wasser und die vor Anker liegende Flotte der globalen Schifffahrtsindustrie.

Die erste Station war Singapur – eine Stadt, die funktioniert. Punkt. Nach zwei Jahren der Unsicherheit war die Ankunft erschütternd. Hier war alles optimiert. Jeder Zug war pünktlich, jede Oberfläche sauber. Auf Sentosa Island stand ich auf einer Hängebrücke, die sich für einen Pier hielt, und fotografierte das türkisfarbene Wasser, das wie auf einer Postkarte aussah, mit der globalen Schiffsflotte am Horizont. Es war, als würde man einem perfekt gestylten Model beim Schwitzen zusehen: makellos, aber mit einem Hauch der dafür erforderlichen Anstrengung.

Die Stadt strahlt Ordnung aus. Selbst das Chaos wirkte choreografiert. Für jemanden, der gerade einem kaputten und willkürlichen System entkommen war, war Singapurs makellose Effizienz sowohl ein Trost als auch eine Verurteilung. Es war eine Welt, die so perfekt zusammengestellt war, dass sich mein eigenes inneres Chaos noch chaotischer anfühlte. Die Brücke ist eine Metapher für eine Stadt, die Perfektion zur Norm macht. Doch unter der glänzenden Oberfläche blieb die Frage: Was passiert, wenn niemand zusieht? Und noch wichtiger: Könnte jemand wie ich, der noch immer versucht, seinen Platz zu finden, jemals an einen Ort gehören, an dem es keinen Raum für Fehler gibt?


Der Panoramablick von Thipwimarn Farm & Cafe auf die Tanote-Bucht.

Aus dem perfekten System wurde ich zum Inselplaneten Ko Tao gebracht. Schon die Reise selbst war eine Lektion: Eine Fähre, die nach thailändischer Zeit fuhr, verspätet startete und unterwegs weitere Verspätungen sammelte - wie andere Passagiere. Die raue See war eine eindringliche und heftige Erinnerung daran, dass sich die Natur nicht nach einem Zeitplan richtet. Das Resort in Tanote Bay war meine Belohnung – ein Stück Zivilisation direkt am Strand. Es war so nah, dass ich törichterweise die Kraft der Sonne unterschätzte und mir einen „mehr als leichten” Sonnenbrand zuzog. Die Natur lehrt einen auf die eine oder andere Weise.

Doch die eigentliche Abschlussprüfung kam mit dem Monsun. Der Regen verwandelte den Gehweg des Resorts in einen Fluss und die Treppe in einen kleinen, tosenden Wasserfall. Ich stand barfuß in der Strömung, filmte sie und verspürte ein ursprüngliches Gefühl der Verbundenheit. Das war der Planet, der mich daran erinnerte, wer das Sagen hat. Doch in diesem Moment der Ehrfurcht schlich sich ein vertrautes Schuldgefühl ein. Hier stand ich nun, ein Nutznießer des Flugverkehrs, ein Zeuge dieser rohen Kraft – nur wegen eines Systems, das die Natur aktiv schädigt. Ich stand auf der Seite der Natur, doch meine bloße Anwesenheit war ein Beweis für ihre Ausbeutung. Das ist der zentrale Widerspruch meines Lebens: Ich reise, um die Schönheit der Welt zu sehen, und trage gleichzeitig zu ihrem möglichen Untergang bei. Ich versuche, ein Gleichgewicht herzustellen – ich esse Bio-Lebensmittel, fahre kein Auto und minimiere meinen ökologischen Fußabdruck –, aber es fühlt sich an, als würde ich versuchen, den Ozean mit einem Eimer zu leeren. Dennoch muss man sich für eine Seite entscheiden. Und ich werde immer auf der Seite der Natur stehen, auch wenn ich selbst Teil des Problems bin.

An diesem Morgen kehrte ich mit einem Ruck in die Welt der Menschen zurück. Eine holprige Fahrt mit dem Schnellboot, das zwar viel pünktlicher, aber auch unendlich chaotischer war als die Fähre, brachte mich über das noch immer raue Meer nach Ko Samui. Dort traf ich einen Freund meines Großvaters. Für ein paar Stunden war ich kein einsamer Reisender mehr, der mit existenziellen Schuldgefühlen rang. Ich war ein Gast. Wir erkundeten die Insel, aßen zu Mittag und mir wurde ein Stück Leben gezeigt. Während die Bootsfahrt ein Moment purer, unkontrollierter Bewegung war, war der Nachmittag auf Ko Samui das Gegenteil: ein kurzer, ruhiger Ankerplatz. Er erinnerte mich daran, dass Verbindung nicht immer ein großes, philosophisches Streben sein muss. Manchmal ist es einfach nur ein gemeinsames Essen und die schlichte Freundlichkeit eines Bekannten.


Ayutthaya Historical Park Wat Phra Ram Buddhistischer Tempel.

Der Flug vom winzigen und wunderschönen Open-Air-Flughafen von Ko Samui führte über einen kurzen, chaotischen Zwischenstopp in Phuket, bevor mich Bangkok vollständig verschlang. Die Stadt empfing mich mit der Subtilität eines Vorschlaghammers. Chaos. Pures, unverfälschtes Chaos. Aber ein Chaos, das irgendwie funktioniert, wie ein Ameisenhaufen, der drei Red Bulls intus hat. Nach der rohen, elementaren Kraft von Ko Tao war dies eine ganz andere Art von Kraft: eine menschliche. Es war nicht überwältigend, sondern ein Fest. Für einen Fotografen, der nach unbewachten Momenten sucht, ist eine Stadt, die niemals stillsteht, das ultimative Jagdrevier. Der Ausflug zu den Ruinen von Ayutthaya war eine notwendige Flucht und ein bewusstes Eintauchen in die Stille, nach der ich mich sehnte. Steine schweigen einfach besser. Doch die wahre Geschichte lag im Lärm, im organisierten Chaos von einer Million Leben, die auf der Straße aufeinanderprallen. In diesem Chaos fühlte ich mich nicht verloren. Ich fühlte mich unsichtbar – für einen Fotografen das Gefühl, dem Zuhause am nächsten zu kommen.


Sitzend in Hongkongs legendärer Ding Ding Tram, mit Blick aus dem Fenster auf eine weitere Ding Ding Tram.

Nachdem ich in Bangkoks wunderschönem Chaos einen seltsamen Trost gefunden hatte, kam mir Hongkong wie ein Schlag ins Gesicht mit dem Portemonnaie vor. Es war, als würde man durch den Prospekt eines Luxuskaufhauses spazieren. Alles glänzte, besonders die Preisschilder. Die berühmte „Symphony of Lights” war die erwartete Enttäuschung. Ein paar Gebäude blinkten. Spektakulär war nur das Gähnen des Mädchens neben mir. Diese Stadt war eine kuratierte Postkartenrealität, und es gab keinen Platz für einen unsichtbaren Beobachter. Jede Ecke schrie nach Aufmerksamkeit, nach Geld.

Fast jede Ecke. Versteckt hinter den glänzenden Türmen lag das Monster Building. Ein brutalistischer Bienenstock aus dicht aneinander gereihten Balkonen und Fenstern, in dem 10.000 Menschen in einem einzigen, weitläufigen Block untergebracht waren. Es war die bloßgelegte Seele der Stadt, ein Denkmal der rohen, unglamourösen Menschlichkeit. Es war das Gegenteil des sterilen Finanzviertels, der einzige Ort, der sich unbestreitbar real anfühlte. Es war der Traum eines jeden Fotografen, aber ein berühmter, der bereits festgehalten und kommerzialisiert worden war. Also stand ich da und schaute zu, wohl wissend, dass selbst hier, in der authentischsten Ecke der Stadt, der Moment bereits gestohlen worden war. Hongkong war eine Stadt, die ich schätzen konnte, aber eine, in der ich das Gefühl hatte, niemals meinen eigenen ungeschützten Moment finden zu können. Ihr Wesen war entweder zu laut und unecht oder zu real, um noch mir zu gehören.


Straßenkünstlerin in Ximending macht einen Spagat, umgeben von jubelnden Zuschauern.

Nach dem „Goldenen Käfig” von Hongkong war Taipeh eine Erlösung. Die Stadt schien nichts von ihrem vermeintlichen Pflichtprogramm zu wissen. Sie war entspannt, chaotisch und lebendig. Ich floh nach Ximending, einem willkommenen, lauten Wahnsinn, und verlor mich beim Anblick einiger wirklich erstaunlicher Straßenkünstler. Doch der tiefgreifendste Moment meiner Heimkehr sollte erst noch kommen: auf dem Raohe-Nachtmarkt. Dort, zwischen den Ständen mit stinkendem Tofu und gegrilltem Tintenfisch, stand ein deutscher Straßenverkäufer. Natürlich. Betrieben von zwei deutschen Auswanderern, war es ein Portal nach Berlin. Ich stand da, aß eine Currywurst mit Pommes, unterhielt mich lange und faszinierend mit den beiden und verspürte ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ich auf der anderen Seite der Welt nicht erwartet hatte.

Das war die Seele der Stadt, offenbart im Chaos der Straße. Es gab jedoch nicht nur Wohlfühlkost. Ich wurde auch Zeuge einer leidenschaftlichen Demonstration für die Selbstbestimmung Taiwans – eine deutliche Erinnerung daran, dass hinter der entspannten Fassade dieser Stadt ein kämpferischer, unabhängiger Geist steckt. Nachdem ich mich in Hongkong ausgeschlossen gefühlt hatte, empfand ich Taipeh als offene Einladung. Es rettet die Seele. Hier riecht es nach Leben. Die Stadt kennt keine Pflichtprogramme, und genau das macht sie so authentisch. Taipeh war ein Ort, an dem ich endlich meine Tasche abstellen und mich nicht nur als Tourist, sondern als Teil dieses schönen, ungezwungenen Durcheinanders fühlen konnte.

II. Akt: Weite und Begegnung

Kind in bunter Soldatenuniform mit Friedenssymbol-Aufnäher und weißer Taube macht das Victory-Zeichen.

Australien bot eine neue Art von Landschaft und Melbourne war der erste Test. Es war anstrengend. Die Stadt bemühte sich so sehr, cool zu sein, dass diese Bemühungen selbst zum dominierenden Merkmal wurden. Jedes Café, jede Gasse, jede Bar schien geradezu danach zu schreien, auf Instagram gepostet zu werden. Für einen Fotografen, der nach ungeschützten, authentischen Momenten sucht, war Melbourne eine Herausforderung. Die Stadt war so übertrieben und so unerbittlich selbstbewusst, dass ich keine einzige echte menschliche Interaktion finden konnte, die ich festhalten wollte. Also passte ich mich an. Ich hörte auf, nach Menschen zu suchen, und begann, die Wände zu betrachten. Ich konzentrierte mich auf die Straßenkunst und die Architektur. Dadurch lernte ich die Stadt nicht nur besser kennen, sondern entdeckte auch eine andere Seite meines Handwerks. Melbourne zwang mich, eine andere Art von Kurator zu werden – einer ohne Menschen, einer, der sich auf die Kunst und die Strukturen konzentriert, die sie hinterlassen.


Sydney Harbour Bridge und Opernhaus bei Nacht.

Sydney stellte mich vor die ultimative Herausforderung: die Postkarte. Das Opernhaus und die Harbour Bridge sind zwei der meistfotografierten Wahrzeichen der Welt. Ich hätte sie ignorieren können, aber das hätte sich wie eine Ausrede angefühlt. Also stellte ich mich der Herausforderung. Ich fand einen neuen Blickwinkel – zumindest für mich – und fotografierte die beiden Sehenswürdigkeiten bei Nacht. Doch damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Ich bearbeitete das Bild mit einem Filmrezept namens „Nightcrawler“, entfernte die Realität und tauchte es in Science-Fiction-Neonlicht. Es war meine Rebellion gegen das Klischee, meine Art, einen Moment zu kuratieren, der nur mir gehörte.

Doch die wahre Essenz der Stadt lag nicht in dem manipulierten Wahrzeichen, sondern in dem menschlichen Moment, der darauf folgte. Eine Frau namens Portia und ihre Freundin kamen auf mich zu und hielten mich für einen professionellen Fotografen. In diesem kurzen, spontanen Gespräch war ich kein Reisender auf der Suche nach Momenten. Ich war einfach nur ein Mensch, der mit einem anderen Menschen in Kontakt trat. Sydney hat mir eine doppelte Lektion erteilt. Ein Klischee kann man überwinden, indem man es sich zu eigen macht. Die authentischsten Momente sind jedoch diejenigen, die einen völlig überraschend treffen.


Wandern auf dem Mount Ainslie in Begleitung eines Kängurus.

Nach der Reizüberflutung in Sydney war Canberra wie ein tiefer, frischer Atemzug. Die Stadt schien wie ein zum Leben erwecktes Architekturmodell, so sorgfältig war sie geplant. Die Luft war sauber, die Straßen waren breit und alles war ordentlich. Es war ein Ort, der „Design“ schrie. Und dann hüpfte ein Känguru auf meinen Weg. Es starrte mich mit ruhiger, beinah gelangweilter Gleichgültigkeit an, bevor es in die Büsche sprang. In einer Stadt, die so bewusst idyllisch gestaltet war, war dies ein Moment purer, ungeplanter Wildheit. Es fühlte sich an, als würde sich das Land selbst über die Idee einer perfekt geplanten Existenz lustig machen. Ich freute mich über diese Begegnung, fragte mich aber, warum es nicht mehr davon gab. Vielleicht muss sich die Wildnis in einer so perfekten Stadt etwas mehr anstrengen, um gesehen zu werden.


Deutsches Dorf Kuckucksuhren und Weihnachtsgeschenke Shop.

Soweit ich mich erinnere, war Adelaide angenehm unspektakulär. Es war ein Moment der Ruhe, eine Stadt, die einfach existierte, ohne fotografiert oder analysiert werden zu wollen. Die eigentliche Geschichte spielte sich jedoch auf dem Tagesausflug ab. Nur eine kurze Autofahrt von Adelaide entfernt liegt Hahndorf, die älteste deutsche Siedlung Australiens. Betrat man die Hauptstraße, gelangte man in eine Parallelwelt, in der Bayern die 1950er Jahre nie verlassen hatte. Die Fachwerkhäuser, die Metzgereien, die Bratwürste verkauften, die Biergärten – alles war so authentisch und perfekt erhalten, dass es völlig bizarr wirkte. Es war ein Themenpark der kulturellen Erinnerung, ein Ort, der sich deutscher anfühlte als viele Teile des modernen Deutschlands. Auf einer Reise voller unerwarteter Momente war dies vielleicht der seltsamste.


ANZAC-Day-Feierlichkeiten, Corroboree- und Haka-Aufführungen.

Die letzte Etappe meiner Australienreise führte mich nach Perth. Die Stadt erfüllte pflichtbewusst ihre Rolle als moderne Metropole. Sie war sauber, sie war funktional, sie war einfach da. Aber sie wirkte wie eine Fassade. Der wahre Charakter zeigte sich in Fremantle, der Hafenstadt am Stadtrand. Hier roch die Luft nach Salz und Geschichte, nicht nach frischer Farbe und steriler Effizienz. Fremantle hatte eine raue, gelebte Seele, die Perth selbst zu fehlen schien. Das war eine weitere Erinnerung daran, dass die wahre Essenz eines Ortes oft an seinen Rändern zu finden ist, in den funktionierenden Teilen, die nicht für Touristen aufpoliert sind.

Der tiefgreifendste Moment in Perth war jedoch nicht an einem Ort, sondern bei einer Zeremonie. Ich war zum ANZAC Day dort und wurde bei der Zeremonie im Kings Park Zeuge von etwas Außergewöhnlichem. Es war ein Corroboree, aufgeführt von First Nations People, sowie ein Haka von Maori zu Ehren der Beiträge ihrer Völker zu den Streitkräften. Es war ein kraftvoller, unverfälschter Akt der Erinnerung, der über die typische militärische Pracht hinausging. Es war lebendige, atmende Geschichte, eine Versöhnung von Vergangenheit und Gegenwart, die sich authentischer anfühlte als jedes Denkmal. Die Reise selbst war ein letztes Stück australischer Absurdität: Der Inlandsflug wurde als international deklariert, sodass ich in Adelaide ohne ersichtlichen Grund die Passkontrolle passieren musste. Es war ein passend unlogisches Ende für diesen Kontinent.

III. Akt: Stadt, Zug, Wasserfall

Menschenmassen überqueren die berühmte Shibuya-Kreuzung.

Nach der weitläufigen Individualität Australiens war Tokio eine Lektion in kollektiver Anonymität. Die Stadt respektiert dich nicht – sie ist einfach da. Sie funktioniert in einem so gewaltigen Maßstab, dass deine individuelle Präsenz völlig unbedeutend wird. Nirgendwo wird dies deutlicher als an der Shibuya-Kreuzung. Dort spielt sich ein wunderbar choreografiertes Spiel von menschlichem Feldhockey ab, bei dem Tausende über den Asphalt strömen und dabei vorübergehend einen perfekten Waffenstillstand mit dem Verkehr schließen. Inmitten dieser Menschenmenge zu stehen, bedeutet, gleichzeitig umgeben und doch völlig allein zu sein. Und das war erfrischend. Nachdem ich monatelang der Protagonist meiner eigenen Geschichte der Genesung gewesen war, war ich in Tokio nur noch Statist. Die Stadt verlangte nichts von mir und schenkte mir die Unsichtbarkeit. Für einen Fotografen ist das die ultimative Tarnung.


Yasaka-Schrein mit durchgehenden Menschen und einer belebten, beleuchteten Straße im Hintergrund.

Während Tokio mir die Unsichtbarkeit schenkte, erforderte Kyoto eine bewusstere Herangehensweise. Tagsüber war die Stadt eine einzige, langsam voranschreitende Menschenkette, die von einem Tempel zum nächsten zog. Es war unerträglich, eine Prozession, die die Schönheit, die sie sehen wollte, mit Füßen trat. Also wurde ich zu einem Geschöpf der Nacht. Ich wurde zu einem „Nachtwandler”. In der Dunkelheit, wenn die Souvenirläden geschlossen waren und die Reisegruppen tief und fest in ihren Hotels schliefen, atmete die Stadt auf und zeigte ihr wahres Gesicht. Die kunstvoll beleuchteten Tempel waren leer und die Stille wirkte wie eine Leinwand. Ich fühlte mich sehr privilegiert, einer der wenigen zu sein, die diesen fairen Austausch mit der Geschichte erleben durften. Da ich nicht alle Regeln kannte, versuchte ich, beim Fotografieren so respektvoll wie möglich zu sein. Ich war ein respektvoller Dieb in der Dunkelheit, der Momente stahl, die nur mir und den Steinen gehörten.


Minoo-no-taki Wasserfall.

Nach der tiefen Stille Kyotos gefiel mir Osaka, auch bekannt als die „Küche Japans“, überhaupt nicht. Vielleicht streikten meine Geschmacksknospen einfach, weil sie von der Reise überwältigt waren. Ich empfand die berühmte Gastronomieszene der Stadt als Lärm. Doch Osaka schenkte mir etwas anderes, etwas, das ich nicht erwartet hatte. Es schenkte mir den Minoh-Wasserfall. Ich machte einen Spaziergang im Wald. Und da war er. Wasser fällt herunter. In einer Zeit voller komplexer Emotionen und großer Philosophien war dies ein Moment purer, elementarer Einfachheit. Manchmal ist das genug. Es war eine stille Erinnerung daran, dass die tiefgründigsten Momente nicht darin bestehen, etwas Neues zu entdecken, sondern darin, die einfache, beständige Wahrheit dessen zu erkennen, was schon immer da war.


Ein Reh frisst aus einem hängenden Beutel an einem Kinderwagen eines Besuchers auf Miyajima.

Hiroshima ist eine moderne Stadt, die ihre Vergangenheit nicht verbirgt. Die Gedenkstätten sind bedrückend, aber notwendig. Wenn man durch den Friedenspark geht, lastet die Geschichte schwer auf einem. Ich stieß zufällig auf eine feierliche Kranzniederlegung und eine Versammlung von Würdenträgern, deren Feierlichkeit die Stille noch verstärkte. Damals war mir das nicht bewusst, aber rückblickend könnte es sich um den isländischen Premierminister mit japanischen Beamten gehandelt haben – ein Moment offizieller, globaler Trauer, den ich aus der Ferne miterleben durfte.

Die emotionale Schwere von Hiroshima verlangte nach einem Gegenpol. Ich fand ihn auf Miyajima. Die Insel bildete einen starken Kontrast: der berühmte „schwimmende” Otorii-Schrein, ein Anblick von ruhiger Schönheit. Doch der Schrein war nicht das Hauptereignis. Das waren die Rehe. Sie gelten als heilige Boten, sind aber auch schamlose Opportunisten. Der eigentliche Moment war nicht das große Tor, sondern ein kleines Reh, das auf seinen Hinterbeinen stand und seinen Kopf in einer Tüte mit Snacks steckte, die an einem Kinderwagen eines Besuchers hing. Es war eine kleine, stille, komische Szene aus dem Leben. Im Schatten der Geschichte war die Zukunft nur ein hungriges Reh auf der Suche nach seiner nächsten Mahlzeit. Es war friedlich.

IV. Akt: Der Blick nach Innen

Drachenkopf am Eingang zum kleinen Tempel des Nam Yang Kung-Fu Retreat.

Die letzte Station war Pai in Thailand. Das „Nam Yang Kung Fu Retreat” war eine großartige Idee. Die Realität bestand aus Schmerzen, Schweiß und Qigong um 6 Uhr morgens. Aber es war nicht nur ein Training, sondern auch eine Verbindung zu einer Geschichte. Die Linie unseres Meisters geht zurück auf die ursprünglichen Meister, die vor Maos Revolution flohen – eine Diaspora der Tradition, die hier endete. Der Stil, den wir trainierten – die Tiger-Kranich-Kombination – wurde von meinem Kung-Fu-Urgroßmeister Ang Lian Huat weitergegeben. Er gründete 1954 den Verband in Singapur. Wir waren ein lebendiges Glied in einer ununterbrochenen Kette.

Hier, in diesem Zustand wunderschöner Qual, fand ich, wonach ich gesucht hatte. Ich fand eine Gemeinschaft. Wir waren ein Thinktank mit schwieligen Fäusten, bestehend aus über zehn Nationalitäten und einem Dutzend unterschiedlicher Geschichten, die alle durch schmerzende Muskeln vereint waren. Unser Anker war nicht nur der Tee, sondern auch seine Qualität. Unser Teemeister stellte seinen Tee selbst her und kaufte nichts von der Stange. Er servierte uns Shu Pu-erh, GABA und Lao Cha Tou in höchster Qualität, teilweise von uralten Bäumen, direkt vom Erzeuger. Jeden Morgen saßen wir schweigend oder debattierend da, nippten an diesen „kaiserlichen” Tees, und der Schmerz schmolz dahin. Es war ein vorübergehendes Zuhause, eine Verbindung, die durch Schweiß und Geschichte geschmiedet wurde. Ich habe jeden Moment gehasst und würde sofort wieder dorthin zurückkehren. In dieser kleinen Stadt im Norden Thailands habe ich endlich die Lektion gelernt: Familie ist keine Frage des Blutes. Es ist eine Frage des gemeinsamen Schmerzes und einer wirklich guten Tasse Tee.

Epilog: Die Rückkehr

Und so endet die Reise auf der Karte, doch in mir geht sie weiter. Ich hatte diese Reise mit einer Frage begonnen: Würde ich mich noch zu Hause fühlen, wo ich meine Tasche abstellte, oder hatten die Veränderungen von 2022 meinen inneren Kompass zerstört? Ich suchte nach Antworten in den unbewachten Momenten von Fremden: der Frau mit dem Regenschirm, den Demonstranten in Taipeh oder den Würdenträgern in Hiroshima. Ich fand sie auch an Orten: im Chaos von Bangkok, in der Kunst von Melbourne und in der brutalistischen Ehrlichkeit des Monster Buildings in Hongkong.

Doch die endgültige Antwort lag weder an einem Ort noch bei einem Fremden. Sie lag in Pai. In dem gemeinsamen, herrlichen Elend mit einem Dutzend anderer blutiger Anfänger. Sie lag in der stillen Gemeinschaft bei einer Tasse Tee, die nach alten Bäumen und Widerstandsfähigkeit schmeckte. Ich habe gelernt, dass „Zuhause” kein Ort ist. Es ist weder eine Wohnung, die man besitzt, noch ein Team, in dem man spielt. „Zuhause” ist ein Gefühl. Es ist die Verbindung, die man mit anderen knüpft, wenn man zu müde ist, um noch etwas vorzutäuschen. Es ist ein Thinktank mit schwieligen Fäusten. Mein Kompass war nicht kaputt, er musste nur neu kalibriert werden, damit er auf Menschen statt auf Orte zeigt. Bin ich damit endlich zuhause?

P. S.: Ich bin dem ersten Entwurf gegenüber skeptisch.